Schule im Wandel

Fokusthema: Welche Lehrkräfte braucht das Land?

  • Die nächste Lehrergeneration hat Nachholbedarf in digitalen und transformativen Kompetenzen.
  • Eine Abiturientenumfrage zeigt, dass unter denjenigen mit Interesse am Lehrerberuf nur jeder vierte Befragte digitale Kompetenzen zu seinen besonderen Stärken zählt; transformative Kompetenzen nur jeder zehnte. Positiv: Fast alle zählen Empathie zu ihren besonderen Stärken.
  • Von den 1er-Abiturientinnen und -Abiturienten sind nur elf Prozent interessiert an einem Lehramtsstudium; ihnen sind Spaß an der Arbeit, Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten besonders wichtig – allesamt Dimensionen, die sie nur bedingt mit dem Lehrerberuf assoziieren.

Herausforderungen für kommende Generationen zunehmend komplex und digital

Bildung ist die wichtigste Ressource Deutschlands. Eine gute Schulbildung legt den Grundstein für die Ausbildung von hoch qualifizierten Fachkräften. Das Lehrpersonal nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein und wurde – zurecht – während der Covid-19-Pandemie als eine von mehreren systemrelevanten Berufsgruppen in den medialen Fokus gestellt. Sowohl bei den Schülerinnen und Schülern als auch bei den Eltern, die im Homeschooling zum Teil in die Lehrerrolle geschlüpft sind, hat sich die Wahrnehmung des Berufsbilds geändert.

Mit den zunehmend komplexen, globalen und digitalen Herausforderungen für kommende Generationen steigen auch die Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer. Um die "Schule der Zukunft" zu gestalten, müssen sie sowohl fachliche als auch personale, digitale und transformative, also überfachliche, Kompetenzen besitzen. Bestehendes Lehrpersonal sollte in diesen Kompetenzen durch Fort- und Weiterbildungen gefördert werden, aber auch in der Ausbildung neuer Lehrkräfte sollten diese Kompetenzen eine zentrale Rolle spielen.

Um zu erfahren, in welchem Ausmaß die nächste Generation Lehrerinnen und Lehrer eine grundlegende Affinität hinsichtlich dieser Kompetenzen mitbringt, befragten der Stifterverband und McKinsey 432 Abiturientinnen und Abiturienten. Neben Einschätzungen zu fachlichen und überfachlichen Kompetenzen wurde hier erhoben, wie viele der Befragten den Lehrerberuf ergreifen wollten, sowie die Motivation, die dafür oder dagegen sprechen würde.

Fachliche und überfachliche Kompetenzen der Lehrkräfte von morgen

Fachliche Kompetenzen: Kompetente Lehrerinnen und Lehrer sind nicht nur sicher in dem Lehrstoff, den sie vermitteln, sondern bilden sich auch während ihrer Berufslaufbahn in ihrem Fachbereich weiter. Darüber hinaus müssen sie die individuellen Wissens- und Kompetenzentwicklungen ihrer Schülerinnen und Schüler im Blick haben. All dies erfordert eine gewisse kognitive Flexibilität. Diese korreliert unter anderem mit der Abiturnote, welche in dieser Studie daher als Referenzpunkt genutzt wird.

Überfachliche Kompetenzen: Neben fachlichen Kompetenzen benötigen die Lehrkräfte von morgen zunehmend überfachliche – personale, digitale und transformative – Kompetenzen. Um Wissen und Kompetenzen effektiv vermitteln zu können, müssen Lehrerinnen und Lehrer auf die individuellen (Lern-)Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen können. Grundlegend dafür sind personale Kompetenzen wie Empathie und die Freude am Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Die Pandemie und der zeitweise Wechsel zum Distanzunterricht haben unterstrichen, wie wichtig digitale Kompetenzen bei Lehrerinnen und Lehrern sind. Auch in Zukunft werden die Schule sowie Problemstellungen und deren Lösungen digitaler werden. Eine Affinität zu Digitalem bei zukünftigen Lehrkräften ist demnach begrüßenswert.

Transformative Kompetenzen sind die zentralen Skills für eine Welt im Wandel. Sie befähigen den Einzelnen, gesellschaftliche Probleme in einer zunehmend unbeständigen und komplexen (Arbeits-)Welt besser analysieren und lösen zu können. Beispiele sind Veränderungskompetenz, Missionsorientierung oder Dialog- und Konfliktfähigkeit. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dies insbesondere Kompetenz und in der Vermittlung von technologischen Innovationen sowie die Fähigkeit, die Institution Schule von innen heraus nachhaltig zu verbessern. Sie sollten zudem in der Lage sein, ihren Unterricht auf gesellschaftliche Herausforderungen auszurichten, und sich veränderungsfähig zeigen, um über Lehr- und Schulinnovationen mit interessierten Gruppen (Eltern,  Kommunen, Schülerschaft) in einen Dialog treten zu können (Dialog- und Konfliktfähigkeit, Missionsorientierung). In unserer Studie werden diese personalen, digitalen und transformativen Kompetenzen durch eine Selbsteinschätzung der fünf besonderen Stärken jeder Person erhoben.

Fachliche Kompetenz: Top-Schüler entscheiden sich seltener für den Lehrerberuf

Die Abiturientenumfrage zeigt, dass die besten Schülerinnen und Schüler den Lehrerberuf zwar am meisten wertschätzen, aber am wenigsten geneigt sind, ihn auszuüben. Der Notenschnitt der Befragten mit Neigung zum Lehrerberuf sank seit der letzten Befragung auf 2,5.

Der Lehrerberuf hat hohes Ansehen bei Abiturientinnen und Abiturienten. Die Befragten wählten den Lehrerberuf in die Top 3 der Berufe mit dem höchsten gesellschaftlichen Ansehen. Nur Ärztinnen und Ärzte sowie Polizistinnen und Polizisten schneiden noch besser ab. Am höchsten ist die Anerkennung des Lehrerberufes bei den Schülerinnen und Schülern mit den besten Noten.

Top-Schülerinnen und -Schüler entscheiden sich trotz des hohen gesellschaftlichen Ansehens seltener für den Lehrerberuf. Lag der Abiturdurchschnitt derjenigen, die planen, auf Lehramt zu studieren, 2014 noch bei 2,1, beträgt er 2021 nur noch 2,5. Gute Abiturnoten allein befähigen zwar nicht zwangsläufig zum Lehrerberuf, sind aber ein guter Indikator für fachliche Versiertheit. Interessant: Rund 10 Prozent der Top-Schülerinnen und -Schüler geben als Berufswunsch Influencer beziehungsweise Influencerin an – fast so viele, wie sich für ein Lehramtsstudium entscheiden würden.

Doch warum entscheiden sich Top-Schülerinnen und -Schüler so selten für ein Lehramtsstudium? Anscheinend erfüllt der Lehrerberuf nicht alle Merkmale, die sich Schülerinnen und Schüler mit besseren Noten bei einem Beruf wünschen. In dem Survey gaben Abiturientinnen und Abiturienten mit Notendurchschnitt 1,9 oder besser an, dass – unter einer Auswahl 14 möglicher Berufsattribute – ihnen die fünf wichtigsten bei der Berufswahl Spaß an der Arbeit, Einkommen, Sicherheit, Aufstiegsmöglichkeiten und Freizeit waren. Allerdings befand die gleiche Gruppe unter der gleichen Auswahl von Berufsattributen nur Sicherheit als eines der Top-5-Berufsattribute, die auf den Lehrerberuf zutreffen. Die anderen gewünschten Berufsattribute Spaß an der Arbeit, Einkommen und Freizeit belegten die Plätze 8 bis 10, Aufstiegsmöglichkeiten sogar den letzten Platz. Die zentrale Bedeutung von Sicherheit bei der Berufswahl zur Lehrkraft deckt sich auch mit aktuellen Befunden einer Langzeitstudie der Universität Tübingen unter Beteiligung von rund 3.600 Schülerinnen und Schülern. Als weiterer wichtiger Faktor wird hier der Wunsch der Eltern nach einem Lehramtsstudium ihrer Kinder genannt.

 

Transformative und digitale überfachliche Kompetenzen werden wichtiger

Während die personalen Kompetenzen durchaus positiv zu bewerten sind, bringen noch nicht alle Schülerinnen und Schüler, die Interesse an einem Lehramtsstudium haben, ausgeprägte digitale und transformative Kompetenzen mit.

Personale Kompetenzen: In Bezug auf die personalen Kompetenzen zeigt sich ein positives Bild für zukünftige Lehrkräfte. Schülerinnen und Schüler mit Interesse am Lehramtsstudium schätzen sich selbst als überdurchschnittlich kompetent ein, auf Bedürfnisse ihrer Schützlinge eingehen zu können. So zählen sie besonders häufig zu ihren fünf besonderen Stärken gut mit Jugendlichen und Kindern umgehen zu können und schnell zu merken, wenn es ihnen nicht gut geht. Digitale Kompetenzen: Bei der Affinität zu Digitalem zeigt sich unter den potenziellen Lehrkräften von morgen dafür ein gemischteres Bild. Während noch jeder vierte Befragte digitale Kompetenzen zu seinen besonderen Stärken zählt, hat nur jeder achte Befragte besonderen Spaß daran, sich mit Technologie auseinanderzusetzen. In Hinblick auf den Digitalisierungsrückstand an deutschen Schulen ist es wichtig, dass die digitalen Fähigkeiten im Studium geschult und ausgebaut werden, damit die Lehrenden ihre digitalen Fähigkeiten an die Schülerschaft weitergeben können.

Transformative Kompetenzen: Künftige Lehrerinnen und Lehrer und insbesondere künftige Schulleiter brauchen das Rüstzeug, um die Schulen von innen heraus zu modernisieren und auf gesellschaftliche Herausforderungen (soziale, ökologische, demokratische Herausforderungen) mit den notwendigen Veränderungen zu reagieren. Ob die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer dafür geeignet sind, ist mit Blick auf die Selbsteinschätzung ihrer fünf besonderen Stärken unsicher. Zwar sehen viele eine eigene Stärke darin, sich Ziele zu setzen, auf diese hinzuarbeiten und andere begeistern zu können (Missionsorientierung), deutlich seltener zählen sie aber ein für Veränderungsprozesse notwendiges Selbstvertrauen und Resilienz gegenüber Rückschlägen (Veränderungskompetenz) zu ihren besonderen Stärken. Auch das Reden vor einer größeren Gruppe von Menschen (Dialogfähigkeit) wird selten als eine der fünf Stärken genannt.

 

Handlungsempfehlungen

Aufgabe der kommenden Jahre wird es sein, den Lehrerberuf attraktiver zu machen, um gute Schülerinnen und Schüler für ein Studium zu gewinnen. Von besseren Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten werden zudem diejenigen profitieren, die schon jetzt im Lehrberuf tätig sind. Politik, Privatwirtschaft und Hochschulen sollten bei der Umsetzung der Maßnahmen an einem Strang ziehen.

  • Schulen benötigen mehr Entscheidungshoheit
    Um die Transformation zur "Schule der Zukunft" zu vollziehen, benötigen Schulen mehr Entscheidungshoheit. Dabei wird aber auch die Selbstverpflichtung zum Einhalten bestimmter Standards durch die Schulen immer wichtiger. Schulen brauchen Entscheidungsfreiheit zum Beispiel bei Neueinstellungen. Ein solches Schulsystem zieht eher Schulabsolventinnen und -absolventen mit transformativen Kompetenzen an – unverzichtbar für den nötigen Wandel der Schulen. Gleichzeitig sollten die Ausstattung der Schulen mit Technik oder das digitale Repertoire, das am Ende der Schullaufbahn beherrscht werden sollte, standardisiert und zentral durch die jeweiligen Kultusministerien gesteuert werden.
  • Der Staat sollte die Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer flexibler gestalten
    Auch wer ein Fachstudium absolviert hat, das kein Lehramtsstudium ist, sollte über pädagogische Zusatzqualifikationen die Option eines Quereinstiegs haben. Angst vor geringeren didaktischen Qualitäten von Quereinsteigern scheinen gemäß Lucksnat et al. unbegründet. Der Wechsel in einen Lehramtsmasterstudiengang nach einem Fachbachelor sollte ebenfalls erleichtert werden. Aber auch Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern, die zuvor Berufserfahrung in einem anderen Beruf gesammelt haben, brauchen Zugang zum Schulsystem. Damit einhergehend sollten Länder die Bewerbung auf Referendariatsplätze öffnen, entsprechend der geforderten Personalhoheit der Schulen.
  • An Schulen sollte es mehr Aufstiegsmöglichkeiten geben
    Als Blaupause können Aufstiegs- und Qualifizierungssysteme in anderen Ländern wie etwa Singapur dienen. Dort wird in den Schulen zwischen drei verschiedenen Karrierepfaden unterschieden: "Teaching Track", "Leadership Track" und "Senior Specialist Track". Aufstiegsmöglichkeiten sind klar differenziert, die Karriereentwicklung wird durch persönliche Beratung und Training begleitet. Solche Maßnahmen machen den Lehrerberuf attraktiver, gleichzeitig wird das Schulsystem gestärkt, da sich die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr anhand ihrer Stärken spezialisieren können. Ein solches System zieht zudem tendenziell mehr Kandidatinnen und Kandidaten mit transformativen Kompetenzen an.
  • Arbeitgeber und das Bildungsministerium sollten Möglichkeiten für einen Perspektivwechsel schaffen
    Die Idee: Lehrerinnen und Lehrer können ein Jahr Auszeit vom Lehrberuf nehmen und zum Beispiel in die Wirtschaft "hineinschnuppern" (ähnlich dem Angebot in Großbritannien für Lehrerinnen und Lehrer mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung). Das stark selbstreferenzielle System Schule würde so "durchgelüftet". Gleichermaßen sollten auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zum Beispiel Alumni der Begabtenförderungswerke, die Möglichkeit für ein zwölfmonatiges Sabbatical als Lehrer erhalten. Dabei wird das Gehalt für zwölf Monate bezuschusst und der Arbeitgeber muss eine Rückkehr ins alte Beschäftigungsverhältnis sicherstellen.
  • Der Staat sollte die Einrichtung von sogenannten Digital Hubs an allen ausbildenden Universitäten unterstützen
    In den Digital Hubs könnten auch Lehramtsstudierende ihre Digital-Literacy-Kompetenzen stärken mit Schwerpunkt auf transformativen Kompetenzen. In den Digital Hubs an den Universitäten könnten auch Lehrerinnen und Lehrer weitergebildet werden: In Booster- Modulen für digitale Kompetenzen könnten sie gezielt nachgeschult werden – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Schule der Zukunft.
Foto: Boehringer Ingelheim

Wir müssen begreifen, dass Lehrerinnen und Lehrer in der Entwicklung unserer Kinder eine wichtige Rolle spielen

Der Unternehmer Christian Boehringer über sein Engagement für bessere Schulen, über spät erkannte Talente – und darüber, wie sich die Schulen der Digitalisierung stellen können.
Interview im MERTON-Magazin

Der Hochschul-Bildungs-Report 2020 ist eine Initiative von