Chancengerechte Bildung

Nach positiver Entwicklung bis zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts verzeichnet der Index im Handlungsfeld "Chancengerechte Bildung" einen Rückgang und erreichte zum Abschluss nur 31 von 100 Punkten. Änderungen im Staatenrecht machen Rückschlüsse auf die Chancengerechtigkeit für Studierende mit Migrationshintergrund allerdings schwierig und Indexwerte der vergangenen Jahre müssen daher mit Bedacht interpretiert werden.

Die Selektion innerhalb des deutschen Bildungssystems hinsichtlich der sozialen Herkunft hat sich zwar verringert, ist aber weiterhin hoch. Der Hochschul-Bildungs-Report zeigt mit seinen neun Indikatoren im Handlungsfeld "Chancengerechte Bildung", inwieweit Gerechtigkeitsdefizite im Bildungssystem seit 2010 abgebaut werden konnten. Im Fokus stehen hierbei zwei Gruppen: die sogenannten bildungsfernen Schichten sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Im Bereich der bildungsfernen Schichten sind lediglich Daten zur Gruppe der Nichtakademikerkinder verfügbar. Sie umfasst Personen, bei denen kein Elternteil Akademiker ist. Die Operationalisierung des Migrationshintergrunds erfolgt aus Gründen der Datenverfügbarkeit und unterschiedlicher Definitionen zwischen den Datenquellen zur Sozialstruktur der Studierenden über die Subgruppe der Bildungsinländer. Bildungsinländer sind Studierende mit ausländischem Pass und einer in Deutschland, außerhalb eines Studienkollegs, erworbenen Hochschulzugangsberechtigung.

Zur Beobachtung der Indikatoren wurden im ersten Hochschul-Bildungs-Report auch Zielwerte für das Jahr 2020 festgelegt, die sich im Handlungsfeld "Chancengerechte Bildung" in der Regel an einem Fair-Share-Ziel orientieren. Das heißt, dass sich die Diversität der Bevölkerung bei den Studierenden widerspiegeln sollte (zum Beispiel sollte sich der Frauenanteil in der Bevölkerung im Jahr 2020 auch im Frauenanteil der studierenden Bildungsinländer widerspiegeln).

 

Wie zahlreiche Studien der vergangenen Jahre bestätigen, ist das Bildungssystem in Deutschland durchlässiger geworden. Dennoch wurden fast alle im ersten Hochschul-Bildungs-Report aufgestellten Ziele im Handlungsfeld Chancengerechte Bildung verfehlt. Der Gesamtindex zum Handlungsfeld liegt in dieser Schlussbetrachtung bei lediglich 31 Punkten – Schlusslicht der sechs untersuchten Handlungsfelder.

Vor allem die absolute Zahl der bildungsinländischen Studienanfängerinnen und -anfänger sowie deren Anteil unter allen Studienanfängerinnen und -anfängern hat sich seit dem Jahr 2016 negativ entwickelt. Hier waren die Zielmarken von 17.400 Studierenden bei einem Anteil von 4,0 Prozent im Jahr 2016 tatsächlich schon fast erreicht, sanken aber bis zum Jahr 2020 auf 13.965 beziehungsweise 2,59 Prozent ab. Hier ist zu beachten, dass sich die Zusammensetzung der Gruppe der Bildungsinländer wie auch die der ausländischen Schülerinnen und Schüler seit dem Jahr 2015 stark verändert hat. Zum einen wurde der Erhalt einer doppelten Staatsbürgerschaft für Kinder ausländischer Eltern erleichtert, die schon länger in Deutschland lebten; durch ihre deutsche Staatsbürgerschaft zählten sie also nicht mehr zu den Bildungsinländern. Zum anderen führte die Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 zu einem Zuwachs an ausländischen Schülerinnen und Schülern, die weniger Erfahrungen mit dem deutschen Hochschulsystem hatten. Ob die Abnahme der bildungsinländischen Studienanfängerinnen und -anfänger – bei etwa gleichgebliebenem Anteil ausländischer Schülerinnen und -schüler – nun ein Ausdruck abnehmender Chancengerechtigkeit ist oder sich durch andere Effekte wie weniger Erfahrung mit dem deutschen Bildungssystem erklären lässt, kann aufgrund unserer Indikatoren nicht bestimmt werden.

Ob sich diese Effekte auch auf die bildungsinländischen Studienabsolventinnen und -absolventen übertragen werden, sollte sich – wegen der durchschnittlichen Studienzeit von acht Semestern – erst in zukünftigen Erhebungen abzeichnen. Sowohl die absolute Zahl wie auch der Anteil dieser Absolventinnen und Absolventen an allen Absolventinnen und Absolventen stagniert – mit leichten Schwankungen nach oben und unten – seit dem Jahr 2015 bei etwa 7.700 beziehungsweise 2,6 Prozent. Die Ziele von 12.600 Abschlüssen bei einem Anteil von 4,0 Prozent konnten nicht erreicht werden.

Die Erfolgsquote im Studium liegt bei Bildungsinländern noch immer deutlich unter der Erfolgsquote aller Studierender (61,8 Prozent versus 76,6 Prozent), was nur zum Teil mit einer anderen Fächerwahl zu erklären ist. Die Frauenquote unter den studierenden Bildungsinländern liegt bei 51,9 Prozent und damit sowohl über dem Zielwert für das Jahr 2020 von 51 Prozent als auch über der allgemeinen Frauenquote unter Studierenden von insgesamt 49,9 Prozent. Für die Studierquote Studierender bildungsferner Schichten, deren Betreuungszufriedenheit sowie die Studierquote von Studierenden mit Migrationshintergrund liegen spätestens ab 2018 keine Zahlen mehr vor. Die Studierquote Migrationshintergrund und die Betreuungszufriedenheit standen hier zumindest schon 2015 beziehungsweise 2018 knapp vor der Erreichung der vorgegebenen Zielmarken für das Jahr 2020.

Insgesamt muss für den Bereich der Chancengerechtigkeit festgestellt werden, dass die Datenlage nicht zufriedenstellend ist und keine abschließende Interpretation der Indikatoren zulässt. Inwieweit sich die Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem seit 2010 verbessert hat, lässt sich anhand der Indikatoren eher vermuten als verbindlich messen. Insbesondere in diesem besonders wichtigen gesellschaftlichen Feld sollten die statistischen Erhebungen deshalb in den kommenden Jahren deutlich verbessert werden.

 

2010 bis 2020: Was wurde erreicht?

Im Handlungsfeld "Chancengerechte Bildung" hat der Hochschul-Bildungs-Report bereits im Jahr 2014 empfohlen, Nichtakademikerkindern den Studieneinstieg zu erleichtern. Deshalb erachten wir es als positiv, dass zum Beispiel das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über den „Qualitätspakt Lehre“ bis zum Jahr 2020 die Beratung und Begleitung Studierender mit Fokus auf Studieneingangs- und Vorstudienphase förderte. Allerdings haben wir auch seit dem Jahr 2015 immer wieder die Reformierung des BAföG in Richtung eines bedarfsgerechteren Auslands-BAföG empfohlen oder den Ausbau der Förderung älterer Studierender – bislang ohne Resonanz in der Bildungspolitik. Es bleibt zu hoffen, dass die Parteien der neu gewählten Bundesregierung die Versprechen in ihren Wahlprogrammen zur Reformierung des BAföG erfüllen werden. Immerhin sieht der Koalitionsvertrag eine weitreichende BAföG-Reform vor.

 

Wo hat sich der Stifterverband engagiert?

Seit dem Jahr 2012 begleitet und berät der Stifterverband Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen im Rahmen des Diversity Audits dabei, Strukturen, Instrumente und Maßnahmen zu konzipieren, um diverse Personengruppen in den Hochschulalltag zu inkludieren. Von 2013 bis zum Jahr 2017 förderte der Stifterverband gemeinsam mit der Stiftung Mercator im Programm Studienpioniere Fachhochschulen mit jeweils bis zu 300.000 Euro, um mehr Nichtakademikerkinder zur Aufnahme und zum Abschluss eines Hochschulstudiums zu motivieren, sie im Studienverlauf zu begleiten und ihnen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Seit dem Jahr 2011 unterstützten der Stifterverband und die Stiftung Mercator in der VorbilderAkademie der Stifterverbands-Tochter Bildung & Begabung Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund dabei, in direkten Austausch über mögliche Bildungswege mit Akademikerinnen und Akademikern zu kommen, die einen ähnlichen Hintergrund haben.

Was bleibt zu tun?

Die soziale Herkunft eines Schülers oder einer Schülerin sollte keinen Einfluss auf Bildungschancen haben – und zwar an keinem Punkt des Bildungsweges. Interessen und Affinitäten sollten die entscheidenden Faktoren bei der Wahl des Bildungspfades und -faches sein. Finanzierungsprobleme, Informationsdefizite, mentale Barrieren und geringfügige Kompetenznachteile sollten keine Gründe für die Entscheidung gegen ein Studium sein.

Empfehlungen:

  • Mentale Barrieren abbauen durch zielgruppengerechte Studieninformationen und mehr Kontakt mit nichttraditionellen Studierenden beispielsweise durch Buddy-Programme schon an weiterführenden Schulen.
  • Studienfinanzierungssystem durch einen Ausbau sowie alters- und elternunabhängiges BAföG kombiniert mit mehr Studienstipendien reformieren.
  • Schon bestehende Kompetenzunterschiede zwischen Akademiker- und Nichtakademikerkindern in der Grundschule abbauen durch einen Ausbau zu Ganztagesgrundschulen, die durch multiprofessionelle Teams das Kulturund Bildungsangebot von Akademikerkindern nachbilden.

Der Hochschul-Bildungs-Report 2020 ist eine Initiative von